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Zusammenfassung
Anmerkungen zum Vortrag von Max Raphael (Paris, 1938)


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Arbeiter als Klassenbezeichnung ist generalis, also geschlechtslos.
1
Daß Arbeiter kulturell interesselos, ist nicht nur ein zweckdienliches Vorurteil der Bourgeoisie, sondern auch die rohe Auffassung von Vulgärmarxisten. – Ideologische Fallstricke in der Kunst.
1
Desinteresse an der Kunst – besonders in den Museen [›Leichenhäuser‹ der Kunst] – infolge Unkenntnis und Unverständnis [des Lohnarbeiters].
1
Neue Kunst unter Umständen noch unverständlicher als die alte trotz Beteuerung der ›Künstler‹, sie stünden auf Seiten der ›Revolution‹. Vieldeutigkeit desselben Ausdrucks.

2
Es gibt eine ›proletarische Auffassung der Kunst‹, vom Klassenstandpunkt aus; die ›zeitlose‹ Betrachtung ist eine begriffslose.
2
Das Publikum (Arbeiter) erwartet daher also eine verständliche Darstellung der ›proletarischen Kunstauffassung‹.

3
Die moderne Kunst ist die letzte Entwicklungsstufe der alten.
3
Die einzigen nennenswerten Künstler finden sich unter Abstrakten und Surrealisten. Beide enden aber doch in Agonie. [1940]
3
Die Abstrakten lehnen jede Analogie der Kunst mit der gegenständlichen Erlebniswelt, eine ›unmittelbare‹ Wiedergabe der Realität ab. Denn die Außenwelt, vom Standpunkt der Kunst aus gesehen, sei nur Zufall. Der so auf sich selbst zurückgewiesene Künstler finde auch in sich selbst keine allgemein vernünftigen Zusammenhänge. Deshalb könne und müsse jeder die Welt auffassen, wie es seine Umstände gerade erlauben. Es bestehe ein prinzipieller Dualismus zwischen Natur und Kunst. Nur die Kraft des menschlichen Bewußtseins könne etwas schlechthin Notwendiges schaffen.
3
Nur die [abstrakte] Mathematik vermeide das Zufällige und ermögliche ein allen Menschen verständliches allgemeingültiges Formen-ABC.

4
Die geometrische Figur (Mathematik) ist keine voraussetzungslose Schöpfung des menschlichen Geistes. Sie ist eine Abstraktion von wirklichen, in der menschlichen Wirklichkeit erlebten Erfahrungen. Die geschichtslose Abstraktion in einfacher geometrischer Gestalt vertauscht die von der ganzen menschlichen Gesellschaft erlebte Geschichte mit der schleierhaften Mythologie eines einfachen Individuums.
4
Die ›Notwendigkeit‹ der ganzen ›modern-abstrakten‹ geometrischen Figur ist fragmentarisch und das Werk daher nicht notwendig, sondern zufällig. Bei den Tongefäßen des Neolithikums zeichnet der Künstler mit einer einzigen Farbe auf monochromem Grund, um magischen Formeln von gesellschaftlicher Wichtigkeit größte Wirksamkeit zu verschaffen. Wird der Sinn metaphysisch, entsteht ein Zusammenhang zwischen den Zeichen, entwickelt sich das Bild auf Kosten ihrer ›geometrischen Reinheit‹.

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Die modernen Abstrakten bewegen sich rückwärts hin zu einem ›Verein von Einzigen‹, die entgegen allen experimentell belegten Erkenntnissen ihre Einzigartigkeit in ihren einzigartigen Werken meinen einer modernen Öffentlichkeit verständlich [uneinzig] machen zu können.
5
Geschichtlich bedingte Zwänge nötigen den Künstler in die Lage, gegen ›die Theorie‹ Kunstwerke zu schaffen oder ›die Theorie‹ auf Kosten der Kunst dahin zu treiben, wo schon ein Punkt auf einer leeren Fläche bereits eine Abweichung von dieser Theorie ist.
5
Die Surrealisten lehnen den geometrischen Rationalismus ab, weil er dem unendlichen Gehalt des Lebens nicht gerecht werde. Sie weisen nicht jede, aber jede alltägliche, durch Nützlichkeit und Gebrauch bestimmte Darstellung als ›künstlerisch inadäquat‹ zurück.

6
Diese ›freie‹ Darstellung ignoriert jede ›Naturgesetzlichkeit‹ und folgt der Irrationalität ›seelischer Assoziationsmechanismen‹ tiefenpsychologisch-wissenschaftlich. Geschichtliche Erfahrungen der menschlichen Gesellschaft gelten als bloßer Schein. Während der moderne Arbeitsprozeß – die Lebensgrundlage der modernen Gesellschaft – zunehmend standardisierte Güter [in Warenform] hervorbringt, produziert der ›seelische Automatismus‹ surrealistisch determinierte Künstler, Varianten der Zersetzung einer sozialen Schicht, die an den sozialen Kämpfen nur als leidende [passive] Zuschauer oder hemmende Reaktion beteiligt ist.
6
Die individuellen Triebkräfte der Surrealisten sind denen der Abstrakten entgegengesetzt: die Angst vor der Lösung ›des‹ Problems endet auf der Flucht vor dem Meßbaren mit einem salto mortale ins Unterbewußte bei der Vergötterung des Zufalls.

7
Im abstrakten Formalismus verkleinert sich sein Inhalt bis zum Nichts – im surrealistischen Zufall individueller Willkür verschwindet die emotionale Substanz in Beliebigkeit. [Wirkliche] Kunst dagegen ist die Gestaltung von Natur und Gesellschaft durch das ›Ganze‹ menschlichen Vermögens [im jeweiligen Künstler]. Der Verstand ohne Materie wird leer, die Materie ohne Verstand ist Chaos. [Verstand hier im Sinne von Erkennen]. [Mehr ›als ein Spiegel der Zeit‹ ist im Ästhetischen ›ein Spiegel seines in seiner Individualität menschlichen Wesens‹, ein ›Bild‹, in welchem der Künstler als Gattungswesen wirkt und die Gattung in der Aktivität des künstlerischen Individuums konkret wird].
7
Um die objektiv-soziologische Funktion von ›abstrakter‹ und ›surrealistischer‹ Kunst darzustellen, wird die Betrachtung auf geschichtliche, zunächst näher kunstgeschichtliche erweitert.

8
Historische Momente des ›mathematisierenden Rationalismus vom XII. Jahrhundert bis heute [1940], [wobei Spinoza hier nicht wirklich hingehört]; Einführung der Linearperspektive, ›vollkommene‹ Proportionen der [menschlichen] Einzelfigur bei Leonardo [(Lionardo) da Vinci] und Albrecht Dürer.
8
Surrealismus ist die Fortführung der (bei Rosseau verwurzelten) Romantik, deren Vorläufer Mystik, Astrologie, Alchimie.
8
›Marat assassiné‹
[Jacques Louis David]
8
Paradigma (beispielhaft) der klassizistischen Kunst ist David. [1748—1825]
8
Unterschiedliche Rolle ›des Altertums‹ im XIII. Jahrhundert, in der Renaissance und besonders im Klassizismus. David verwirft die Errungenschaften der früheren Epochen. Die Kunstauffassung des Altertums, wenngleich in verkümmerter Form, dient der aufstrebenden bürgerlichen Klasse dazu, ihre eigenen, partikulären Interessen als die der ganzen Menschheit auszugeben [und damit die unteren Schichten der Gesellschaft im Kampf um die Herrschaft auf ihre Seite zu ziehen].

9
›Marat assassiné‹ [Detail]
9
Jacques Louis David – vom erregten Teilnehmer zum skeptischen Betrachter. Jean Auguste Dominique Ingres  – vom interesselosen Zuschauen zum Wegschauen, Austausch der häßlichen Wirklichkeit gegen die leblos schönen Gestalt.
9
Gustave Courbet, Edouard Manet, Edgar Degas – Wendung zum industrie-kapitalistisch geprägten Realismus und zur Sozialkritik. [›Warencharakter ohne menschliches Antlitz‹: die Ware ist immer ein Produkt menschlicher Arbeit, eine Form, in welcher dieses Produkt erscheint.]
9
Die moderne abstrakte Kunst ist ›frei‹ von beidem, ›vom Ideal des Schönen‹ wie von ›Sozialkritik‹, aber nicht als ›freier Entschluß‹, sondern als Ausfluß der gesellschaftlichen Wandlung vom liberalistischen Konkurrenzkapitalismus zum organisierten monopolistischen Kapitalismus. Als [Vorläufer] der Vorklassizisten genannt: Raffael [Raffaello di [Santi] und Albrecht Dürer (s. oben).
|›Form‹| [eigtl. ›Figur‹, ›Gestalt‹, ›Abbild‹, Ausdruck‹]: Ratio (Vernunft) setzt ihre eigene Formen als Inhalt und reduziert die künstlerische ›Form‹ auf Formeln, Relationen von Quantitäten (funktionale Beziehungen von Größen).Bloß quantitative Relationen konstituieren keinen Inhalt, es ist Organisation der Leere.

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[*Form und Inhalt sind ein Wesen; die Form ist die Form ihres Inhaltes oder sie ist nicht; Hegel].
10
Weg der abstrakten Kunst aus dem Klassizismus: Reduktion sinnlicher, moralisch bedeutsamer Inhalte auf geometrische Formen, ohne die ›alten‹ Widersprüche damit aufzulösen. Sie erscheinen wieder in den neuen formal [bloß äußerlich] reduzierten Elementen selbst. Letzter Ausweg: Flucht in eine surreale Romantik.
10
Surrealismus und abstrakte Kunst sind analoge Entwicklungen auf demselben historischen Grund.
10
Das Gefühl der Unendlichkeit aus dem Innersten der romantischen Seele [die blaue Blume des Novalis] speist sich aus zwei Quellen: einer im Fortschreiten der geschichtlichen Entwicklung offenkundig unfruchtbar gewordenen [christlichen] Religion einerseits, andererseits dem Erstarken der bürgerlichen Gesellschaft und der ›Erweiterung‹ ihrer [Macht-]Basis, der kapitalistischen Produktionsweise, die den arbeitenden Menschen in eine ›nützliche Sache‹ [Ware] und die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen in ein ›Ding‹ verwandelt.

11
Die Zersetzung der Dinge [der Formen der Kunst] führt zur Zersetzung der Verhältnisse und ihrer Repräsentanten wie bspw. in den Karikaturen von Honoré Daumier.
11
Die Romantik, anders als der Klassizismus, hat viele Gesichter zugleich. Die Mythen von ›Nation‹ und ›Demokratie‹ werden, je nach Temperament bald glorifiziert, bald verdammt: doch immer befinden sich Individuum und Gesellschaft weit auseinander.
11
›Apollon et Daphné‹ [N. Poussin]
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›La Liberté guidant le peuple‹ [Eugène Ferdinand Victor Delacroix, Louvre, Paris]
11
›Kapital‹ ist eine ›verdinglichte‹ Beziehung zwischen Menschen, kein ›Subjekt‹.
11
›Le Massacre de Chios‹

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Zerfall der Romantik an der schlechten Verendlichung eines schlechten Unendlichen.
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›Dois justiçados‹
Jean Louis André Théodore Géricault
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›Eroberung Konstantinopels‹ [E. Delacroix]
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Delacroix hat die Kunst inhaltlich von der Enge des Klassizismus befreit und um das Darstellungsmittel der Farbe bereichert, indem er ihm einen bald lyrischen Klang, bald einen rein sinnlichen, bald einen metaphysischen Reiz gab.
12
›Emotions Parisiennes‹
[Honoré Daumier]

13
Die zunehmende Auflösung kleinbürgerlicher Lebensidylle führt im Surrealismus zu ›Tiefen‹-Psychologie und ›Tiefen‹-Physiologie, zu Symbolen jenseits von Ziel setzendem Intellekt und Ziel erzwingendem Willen.
13
Die durch diese Beschränkung gewonnene Ausdruckssteigerung der Darstellungsmaterie kostet ihren eigensinnlichen Reiz. Die Darstellungselemente werden nicht bloß überflüssig, sondern hinderlich. Malerei mutiert so zu Literatur, und diese außerkünstlerischen Ergänzungen führen zum und enden beim ›Medizinmann‹.
13
›Führer‹ der Surrealisten ist André Breton.
13
Im Surrealismus ist auf beschränkte Art und Weise die Romantik wieder auferstanden.
13
Wie läßt sich begründen, daß in ihren Anschauungen und Ausdrucksformen bürgerliche Künstler – wie Abstrakte und Surrealisten – sich selbst als revolutionär bezeichnen.
13
Diese ›Revolutionäre‹ verwechseln eine Entwicklung auf ihrem engen Gebiet der Kunst mit ›gesellschaftlicher‹ Revolution, besonders auch deshalb, weil die kapitalistische Produktionsweise nicht für die Kunst günstig ist. [Kunstmarkt und Kunst benutzen nur den gleichen Laut, das gleiche Wort. ›Feuer‹ bei der Artillerie ist bspw. auch etwas anderes als das gleich klingende Lagerfeuer].

14
Der Höhepunkt dieser Auffassung von Revolution ist die Beseitigung der Kunst überhaupt durch Dadaismus.
14
Die ›sachlichen‹ [gesellschaftlich objektiven] Ursachen für die Entwicklung der beiden Kunstrichtungen liegen in der Entwicklung des Kapitalismus vom liberalistischen zum monopolistischen, spezieller im Ersten [imperialistischen] Weltkrieg, seinen Begleiterscheinungen und Konsequenzen.
14
Seit Beginn der bürgerlichen [kapitalistischen] Epoche hat die Kunst [hier näher Skulptur, Malerei] ihre [frühere] Funktion weitgehend eingebüßt. Das Bild in der Sammlung des Privatmannes hat kaum Bedeutung für das gesellschaftliche Ganze. Die Kunst als Synthese von durch die menschliche Gesellschaft beherrschter und von ihr unbeherrschter Welt ist weitgehend überflüssig geworden. Die Beherrschung der Welt erscheint durch Vermittlung neuester Technik [stets demnächst] uneingeschränkt möglich. – [Die Ware selbst ist bereits die ›private‹ Aneignung des gesellschaftlich erzeugten Produkts; sie kann nicht ein zweites Mal privat ›angeeignet‹ werden, sondern bloß unter Privaten ausgetauscht.] – Jede Metaphysik ist nun überflüssig. Aber jeder reale Schritt zur Beherrschung der Welt, löst alle [bisherigen] Bindungen, so daß der Bereich des täglichen menschlichen Lebens jeder Beherrschung durch die Menschen zunehmend entgleitet.

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Die Kunst verliert die Realität einer gegliederten Ordnung, zeitgleich Mythen und Handwerk. Durch ›Verlust der Hand‹ erstarrt die Substanz menschlichen Innenlebens zur [leeren] quantitativen Relation. [Die Umformung ›nur‹ durch seinen eigenenKörper ist etwas irritierend. Jede ›Formung‹ hat einen Stoff und ein Werkzeug, und das erste ist zweifellos die menschliche Hand (Architektur, Skulptur, Malerei), daneben die Stimme (Musik, Dichtung). ›Mechanische Prozesse‹ (technische) sind nicht deshalb kunstvernichtend, weil es ›mechanisch‹ gestützte, durch Werkzeuge erweiterte ›Handarbeiten‹ sind, sondern wegen der gesellschaftlichen Form dieser Prozesse als Produktionsprozeß des Kapitals.]
15
Günstige Bedingungen für die Kunst: repräsentationsfähige herrschende Klasse, geschulte Handwerker, das ›Unbeherrschte‹ erklärende Intellektuelle. Moderne Intellektuelle sind Spezialisten, die das ›Ganze‹ nicht mehr übersehen, bestenfalls ›erkennen‹, daß die Mittel zur Eroberung der unbeherrschten Welt sich umkehren in Mittel zur Zerstörung der bestehenden Welt überhaupt. Die moderne herrschende, die bürgerliche Klasse ist der Selbstentfremdung verfallen und so nicht mehr repräsentationsfähig. Es entsteht ein Comité-Mäzenatentum, das ›nützliche‹ Almosen verteilt [Nobelpreis], [das sich weiter zum ›Sponsorentum‹ entwickelt, bei dem die Nützlichkeit in Bestimmung und Kontrolle übergeht], das ›Handwerk‹ [Stand, Kleinbürger] verliert seine soziale Geltung, [seine Fähigkeit künstlerisch zu arbeiten und Kunst zu genießen].
15
*[›die Entwicklung der Technik [und] die [private] Aneignung [der mit] ihrer [Hilfe] hervorgebrachten Produkte … bedeutet in etwa: die zunehmende Akkumulation und die damit einhergehende Konzentration des Kapitals … hat den Mittelstand [das Kleinbürgertum, Anwender eigener Arbeitskraft an eigenen Arbeitsmitteln,] zerdrückt.]

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Die ›bürgerliche Kultur‹ senkt das schöpferische Niveau unter dem Schein zunehmender ›Bildung‹ [eigtl. Dressur zur besseren Verwertbarkeit]. Das zerstört die soziale Grundlage der Kunst. Der Künstler wird ›Einzelner‹ und wähnt sich ›einzig‹. [aramäisch: ›mene, mene tekel upharsim‹, erstes Warnzeichen].
16
Die abstrakten Künstler sind – wie Robespierre zu einer politischen – zu einer ästhetischen Schreckensherrschaft gekommen.
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*[der wirkliche Verkehr der Ausbeutung und dem Warencharakter angenähert hatte; in etwa: der wirkliche Verkehr (der Menschen untereinander) zur Ausbeutung geworden war und ihre Beziehungen Warencharakter angenommen hatten]. Dieser ökonomisch-sozialen Entwicklung entspricht die Wendung vom Organischen ins Abstrakte, Mathematische auf dem Gebiet der Kunst. Begriffslos erscheint dabei ›kollektiv‹ als ›kommunistisch‹ und die partielle ›Revolution‹ in Teilen der Kunst als eine Revolution der gesellschaftlichen Verhältnisse. [Die Kunst als Phänomen des Überbaus ist immer etwas ›langsamer‹, später als ihre Voraussetzung, die ökonomische Basis (der Gesellschaft). Dies erlaubt dem bereits objektiv-reaktionären Künstler ein subjektiv-revolutionäres Selbst- und Wohlbefinden, und dies um so intensiver und früher, je schneller die ökonomische Entwicklung vonstatten geht].

17
Der geometrische Rationalismus konserviert – verkleidet als methodologischer Radikalismus – alte ideologische Inhalte in jeweils zeitgemäßer |Form| [Ausdruck, …, … s. S. 11].
17
Die ›letzte Ölung‹ der inhaltsleer und widermenschlich gewordenen bürgerlichen Gesellschaft wirkt auf den Künstler ›more geometrico‹ als ›seine‹ revolutionäre Tat, obwohl sie objektiv nichts ist als ein ›letzter‹ Versuch, die bürgerliche Welt ästhetisch zu retten.
17
Die Surrealisten reagieren auf die Geschichte [WK 1], indem sie sich methodisch-psychoanalytisch in die letzte Einheit des zersplitterten ›Ich‹ zurückziehen und glauben, von diesem Punkt aus gegen die organisierte politische Reaktion mit den chaotischen Zuständen ihres ›Ich‹ protestieren zu können. Die Ohnmacht dieses infantilen Protestes weckt letztlich das Bedürfnis, die individuelle Beschränktheit aufzuheben und in den Klassenkämpfen auf die Seite des Proletariats zu wechseln. Jedoch, die proletarische Weltanschauung [›Kommunismus‹] ist rational begründet, der infantil-irrationale Protest wendet sich gegen die Kommunistische Partei, und der sich aus dem Surrealismus entwickelnde Sousrealismus strebt dem Nihilismus und der kulturellen Reaktion zu.

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*Sigmund Freud, Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse. Und Neue Folge. Studienausgabe Bd. 1, Frankfurt am Main 1969, S. 348.
18
Die Einzelwissenschaft beginnt mit der Begründung des eigenen Gebietes. Eine andere Frage ist es jedoch, ob bei der Erklärung festgestellter Tatbestände an dieser Beschränkung festzuhalten oder darüber hinauszugehen ist, ob die ökonomisch-sozialen Bedingungen als letzte Ursache [Basis der Gesellschaft] zur einer vollständigen Erklärung herangezogen werden müssen. [Klassenstandpunkt].
18
Die Freudsche Theorie ist – und dies im Gegensatz zu C. G. Jung – insofern fortschrittlich, als das vorgefundene ›irrationale‹ Material mit größter logischer Kraft der Vernunft zugeführt werden soll, daß es nichts Sinnloses gibt im ›seelischen Leben‹.

19
Der Surrealismus führt nicht über die [Beschränktheit der] Psychoanalyse [oder andere ›bürgerliche‹ oder ›proletarische‹ Theorien] hinaus, sondern in eine ›politisch-ideologische‹ Reaktion hinein.
19
Abstrakte und surrealistische Kunst verbinden auf ihrem Weg zu ›inhaltlichem Neuland‹ emotionalen Irrationalismus mit methodischem Nihilismus, evolutionär in den Schranken ihres engen Gebietes, gesellschaftlich jedoch konservativ oder reaktionär.
19
Diese geborenen Kleinbürger [abstrakten und surrealistischen Künstler] sind [auch und gerade in ihrer ›Kunst‹] immer Kleinbürger geblieben.
19
Daß die modernsten Kunstbestrebungen in den Grenzen der bürgerlichen Ideologie bleiben, bedeutet nicht, daß sich in der Kunst der Arbeiterklasse und dem ›proletarischen‹ Künstler [als deren tätigem Subjekt] keine Aufgaben stellen.
19
Die dritte Kunstrichtung im XIX. Jahrhundert ist die realistisch-naturalistische; besonders hervorzuheben Jean-Baptiste Camille Corot. Ihre Fortsetzung mündet in den sozialistischen Realismus [dessen spätere Entwicklung vor allem im ›real existierenden Sozialismus‹ aus dem von M. Raphael behandelten Zeitabschnitt hinausfällt].

20
Das Herausbilden der künstlerischen |Form| [Ausdruck …] geschieht verhältnismäßig langsam und auch nicht losgelöst, unabhängig von seiner gesellschaftlichen Grundlage.
20
Es ist ein ›künstlerischer‹ Irrtum, ein Irrtum vieler Künstler, die Wendung zu grundlegenden gesellschaftlichen Änderungen [Änderung der Eigentumsverhältnisse] könne allein ideologisch, gar durch Malerei erreicht werden. Es ist Aufgabe der Arbeiterklasse darzulegen, daß Änderungen der künstlerischen Ausdrucksmittel dazu nicht genügen, sondern politische Akte des Klassenkampfes nötig sind, diese Gesellschaftsordnung zu ändern.
20
Dem Kommunisten scheint dies einfach, dem ›Künstler‹ oft nicht.
20
Den [meist noch jungen, nicht arrivierten] Künstler stößt die herrschenden Gesellschaftsordnung moralisch ab, wohingegen der Lohnarbeiter durch seine gesellschaftliche Stellung unmittelbar im Widerspruch zu dieser Ordnung ist; und er besitzt eine Theorie, die ihm einen Weg aus seiner menschenunwürdigen [Dasein als Ware] sozialen Stellung zeigt.

21
Im Gegensatz zu den Intellektuellen beginnt der Künstler mit den seelisch-emotionalen Reaktionen in den gegebenen sozialen Verhältnissen [wobei die Existenz als ›Knecht der herrschenden Klasse‹, als hochdotierter Prämienknecht wie bei den Intellektuellen eine besondere, zumeist alles andere überragende Rolle spielt, vor allem, solange die herrschende Klasse sich dies erlauben will und kann. Über die Probleme der Akkumulation des Kapitals und des Zwischenlagerns von Mehrwert/Profit in ›Kunstwerken‹ nicht an dieser Stelle/bei diesem Thema; Kunstmarkt]. Stellt sich der Künstler auf die Seite des Proletariats, verliert er meist schnell zumindest sein laufendes Einkommen. [Daher auch die eigenartige Vorliebe der ›Sammler‹ für Frühverstorbene, das weiß man, was man hat].
21
[Diese Definition des ›unwillkürlich berufenen Künstlers‹ läßt die Zuordnung sehr vieler anderer ›Kunstschaffender‹ unbestimmt.] [Auch die ›Aufgabenstellung‹ hier etwas diffus, so eine Art Konstante zur Lückendeckung; ›Auftragskunst‹, Auftraggeber.]
21
[Revolution und Klassenkampf sind kein Subjekt; Ereignis, Bewegung]. Von und im bürgerlichen Geist geschaffene Techniken und Kunstformen bleiben diesem solange verhaftet, als sie in dieser Tradition angewandt werden. Das reicht bestenfalls zur Sozialkritik.

22
Angesichts neuer Aufgaben, Werkstoffe, Werkzeuge und Techniken muß der ›revolutionäre‹ Künstler ganz von vorne anfangen.
22
Die ›politischen Tageskämpfe‹ sind Grenzen für die überlieferten Ausdrucksmittel, denn, so der traditionell und individualistisch geprägte Künstler, sie entbehren der für die künstlerische Gestaltung notwendigen inneren Spannweite und Totalität. Vom proletarischen Standpunkt, von dem einer klassenlosen Menschheit aus ist dagegen das Einordnen in eine Gesamtlinie das Verfahren, um zu Weite und Ganzheit vorzudringen.
22
Tendenz, ein Streben nach Absicht und Neigung, ist unterschiedlich ›selbstverständlich‹ je nach Klassenlage; dialektisch sind Apotheose und Anklage dasselbe [determinatio est negatio, Spinoza]. Jede [politische] Neutralität und Indifferenz dient den Herrschenden, jeder Stoff, den eine Gesellschaft einem Künstler bietet, ist Tendenz, womöglich durch langen Gebrauch, Übung, gut getarnt, Konvention geworden Inhalte [und |›Form‹|] proletarisch orientierter Kunst drängen sich der Wahrnehmung auf, weil sie aus der theoretischen und praktischen Negation der bestehenden ›Ordnung‹ geboren sind. Tendenz [in der Kunst], das vorsätzliche Herausstellen der Gehalte der neuen Weltanschauung, ist ein notwendiger Schritt, der mit dem Gegenstand oder Verhältnis [Inhalt] beginnt, noch ehe die passendste künstlerische Gestalt [Form] gefunden ist. [Werden]. Angst [nicht Furcht, ganz trefflich] vor der Tendenz ist Ausdruck eines Mangels an Zuversicht, Zeichen einer unklaren und schwankenden Haltung in den sozialen Auseinandersetzungen.

23
Jeder Stoff [Sujet] hört auf Tendenz zu sein, sobald seine adäquaten Ausdrucksmittel gefunden sind. Das ist die für den Künstler wichtigste und entscheidende, seine spezielle Aufgabe.
23
Die großen gesellschaftlichen Veränderungen seit dem späten XVIII. Jahrhundert haben kein unmittelbaren Wiederhall in den künstlerischen Sujets, wie beim Gang durch die Museen auffällt. Statt der Kämpfe und Krisen friedliche Monotonie, statt der Härte der Ereignisse leere Abstraktion, statt des Schicksals der Masse der Menschheit individuelle Exzentrizität. Die Annäherung an die soziale Wirklichkeit deformiert zur Anekdote, zur Allegorie, wird falsch heroisch und historisiert. Dies ist bei bildenden Künstlern stärker ausgeprägt als in der Literatur: die bürgerliche Gesellschaft kann ihr eigenes Gesicht nicht mehr ertragen, und der Künstler nicht mehr das seiner eigenen Klasse. Der Schaffensprozeß mutiert zu ›formaler‹ Inzucht, der Künstler wird geistig arm und unverständlich. Die Trennung von Individuum und Gattung, von Einzelnem und Gesellschaft, die Aushöhlung des Sozialen zur abstrakten Menschheit führt zu einem falschen Bewußtsein von der Wirksamkeit und Bedeutung der Gesellschaft für die Kunst. Ein vollständiges Künstlertum [ein Künstler in der vollständigen Entfaltung seiner Wesenskräfte] ist nur möglich eingebettet in das soziale Leben, in der Gemeinschaft [der Klasse].

24
Die meisten sog. kommunistischen Künstler haben sich damit begnügt, ›politisch‹ Kommunist zu sein und künstlerisch Bürger zu bleiben, sie finden die Ausdrucksmittel nicht, da sie den [proletarischen] Lebensgehalt nicht kennen. Dabei ist der Erfolg nicht von ihrer eigenen Anstrengung allein abhängig, sondern auch von der Entwicklung der Klasse [von einer Klasse ›an sich‹ zu einer ›für sich‹, zur Partei]. Kunst lebt nicht aus der Theorie, sondern aus gesellschaftlichem Dasein. Der künstlerische Arbeitsprozeß setzt die Existenz einer gesellschaftlichen Gesamtideologie [der des kommunistischen Künstlers die proletarische Weltanschauung] voraus und bedarf eines starken kontemplativen Elements. Der Klassenkampf ist nicht und gibt nicht die Muße, ein ästhetisches Gefühl reifen zu lassen, ohne das kein Kunstwerk werden kann. Das heutige [1940ff] Proletariat [Klasse, Partei] ist eine in Selbstentfremdung und Verdinglichung existierende Bewegung, welche diese ›Muße‹ nicht kampflos-friedlich herbeibitten oder wünschen kann, ohne einem fruchtlosen Reformismus zu verfallen, der letztendlich nur in Agonie und Barbarei enden kann.
24
Der Gegensatz von Künstler und Arbeiter, wie er jetzt [1940ff] ist, ist kein grundsätzlicher oder antagonistischer.
24
Die Arbeiterbewegung [die Arbeiterklasse] bietet dem Künstler eine fruchtbare Methode: die materialistische Dialektik.

25
Der Künstler muß die materialistisch-dialektische Methode ins Anschauliche übersetzen.
25
Der Künstler kennt das Leben des Arbeiters nicht und sieht ihn nur in seiner Misere oder falsch-pathetisch-heroisch. Die Einheit von Elend und Kraft ist so dem Künstler fremd, er kann sie nicht gestalten. Auch im klassenbewußten Proletariat haften viele ›kleinbürgerliche‹ Neigungen, an denen sich der von den ›Ideen‹ herkommende Intellektuelle härter stößt als an den Folgen der Misere.
25
Die Tätigkeit von Arbeiter und Künstler ist im Mittelalter sehr ähnlich [Handwerker]. Gegenwärtig [1940ff] ist der Arbeiter durch gesellschaftliche Arbeitsteilung und Zerlegung des Arbeitsprozesses in der Fabrik [auch am Schreibtisch und gerade da wider allen Schein] auf ein untermenschliches Niveau herabgedrückt, der Künstler dagegen ist weitgehend Handwerker geblieben, nun mit dem Flair des Genies, eine Art ins Übermenschliche erhöhte Inkorporation des Geistes auf Erden [irrational]. Zu Beginn [der kulturellen Revolution – die nicht ohne ›materielle‹, nämlich die der Eigentumsverhältnisse] stehen Künstler und Arbeiter weit voneinander entfernt. Da nun das moderne Leben auf Fabrikarbeit beruht, muß der Künstler in die Fabrik, um zu sehen [sinnliche Erfahrung] und zu verstehen.
26
[Der Wandel im Erscheinungsbild der ›Fabrik‹ macht keinen Unterschied].

26
Nach dieser [proletarischen] Weiterbildung [Lehrgang] ist es Aufgabe des [qualifizierten]Künstlers, jedes Ereignis des öffentlichen Lebens in anschauliche |Form| zu bringen, wie es vom proletarischen [Klassen]Standpunkt aus erscheint und zu beurteilen ist [jeweils auf die wirksamste Weise in den verbreitetsten Medien. Die technische Entwicklung und die mit ihr einhergehende notwendige ›Kapitalgröße‹, verbunden mit zunehmender Kapitalkonzentration, begleitet von Zulassungsbeschränkungen und Reglementierung der Medien durch Klassengesetze stellen eine außerordentlich schwer überwindbare Hürde dar. Der Künstler und die Arbeiterklasse brauchen daher Einfälle, wie sie trotz und in diesen Beschränkungen effizient wirksam sein/werden können]. [Ein ›Lehrgangsbeispiel‹ findet sich in Christfried Lenz, ›Kein Pech Arbeiter zu sein‹, 1984, ISBN 3-88734-013-2].
26
In den Arbeiterorganisationen, genauer: den Arbeiter-›Führern‹ fehlt es an gutem Willen, fachlicher Qualifikation und vor allem an Klassenbewußtsein. [Das ist seit 1940 keineswegs besser geworden].

27
Gefördert werden zuerst die ›Führer‹-Gefolgschaft, danach Opportunisten, die sich aufgrund ihrer beruflichen Unfähigkeit in der bürgerlichen Welt nicht haben durchsetzen können.
27
Die Künstler auf seiten der Arbeiterklasse dürfen durch deren Organisationen nicht unentgeltlich ›genutzt‹ und ausgebeutet werden.
27
Die Künstler der Arbeiterbewegung ›gestalten‹ die Inhalte des Klassenkampfes seinen Etappen angemessen vom Klassenstandpunkt aus. Dazu muß der Künstler seine zumeist bürgerliche Grundhaltung und die sie begleitenden irrationalen Ängste und Vorstellungen überwinden. Die Arbeiter ihrerseits müssen ihre Berührungsangst vor ›der Kunst‹ ablegen, um den Nutzen für ihren sozialen Kampf zu erkennen und die ›künstlerischen‹ Mittel wirkungsvoll anwenden zu können. Der bürgerliche Künstler muß an der Funktionslosigkeit der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde gehen [austrocknen, auch wenn er auf dem Kunstmarkt fett werden kann wie ein Kapaun, oder als Handlanger in der Konkurrenz der Waren oder als Werkzeug der politischen Propaganda finanziell bessergestellt dahinvegetiert]. Bisher [1940ff] ist das nicht gelungen. Denn: ohne ein intensives Leben an der Basis [der Klassenkämpfe] kann die Leitung [der Organisationen der Arbeiterklasse] nur ein [bestenfalls] bürokratischer Wasserkopf sein von sehr zweifelhaftem revolutionärem Wert [oder schlimmer, ein hochdotiertes Einfallstor für Karrieristen, verkappte Agenten der bürgerlichen Klasse].
27
* Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW, Bd.1, S.391
27
** Briefe aus den >Deutsch-Französischen Jahrbüchern<. MEW, Bd. 1, S. 343.


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